Die Narben sind nicht zu übersehen. Sie ziehen sich um und über den Ellenbogen. Seit zehn Jahren zieren sie den linken Arm von Helena Mikkelsen. Die Narben stammen von einer Operation. Und dass die 20-Jährige mit dieser Vorgeschichte Handbälle regelrecht schleudern kann, ist bemerkenswert. Als sie zehn Jahre alt war, brach sich Mikkelsen das Ellenbogen-Gelenk – und erhielt vom behandelnden Arzt eine Hiobsbotschaft. „Er hat gesagt, dass ich wahrscheinlich nicht mehr Handball spielen kann“, erinnert sich die Dänin. Aber einfach aufhören? Mit dem geliebten Sport, den schon ihr Vater und ihre Mutter gespielt hatten?
Das kam für die kleine Helena nicht in Frage. „Ich habe trotzdem weitergemacht.“ Heute hat sie zwar immer noch manchmal Schmerzen, kann aber ohne motorische Beeinträchtigung spielen. Bei den Halle Wildcats dürfte man heilfroh sein, dass sich Mikkelsen damals dem Rat ihres Arztes widersetzte. Denn seit ihrem Wechsel nach Halle im Sommer 2015 zählt sie zu den besten und wichtigsten Spielerinnen im Zweitliga-Team. In der kommenden Saison, die am Sonntag mit dem Pokalspiel gegen die Spreefüxxe Berlin eingeläutet wird, ist Helena Mikkelsen eine der Säulen der Aufstiegshoffnungen.
Es war durchaus erstaunlich, dass die Dänin vor einem Jahr überhaupt in Halle gelandet ist. Ihr vorheriger Verein Viborg HK gehört zu den stärksten Mannschaften der dänischen Eliteliga, ist zudem regelmäßig in der Champions League vertreten. „Ich habe dort aber nicht viel Spielzeit bekommen“, sagt Mikkelsen. Daher sah sie nach einer anderen Option um. Dass sie diese in der zweiten deutsche Liga und in Halle fand, lag vor allem an einem Mann: Jörgen Gluver. Der dänische Trainer der Wildcats kannte Mikkelsen noch aus gemeinsamen Zeiten in Viborg, wusste von ihren Qualitäten und lotste sie an die Saale. „Wir hatten in Viborg eine sehr gute Chemie. Als ich hörte, dass er in Halle ist, wollte ich auch hierher kommen“, sagt Mikkelsen.
Den Wechsel hat sie nicht bereut. Die junge Dänin ist in der Saalestadt inzwischen heimisch geworden. Auch wenn die ersten Monate hart waren. „Ich konnte am Anfang überhaupt kein Deutsch, hatte viel Heimweh“, erinnert sie sich. Aber Mikkelsen biss sich durch und kann in gutem Deutsch sagen: „Ich möchte überhaupt nicht mehr nach Dänemark zurück. Ich mag Deutschland und Halle.“ Ihr gefällt die Größe der Stadt, ihr gefallen die Möglichkeiten, die Halle im Vergleich zum kleinen Viborg bietet. „Für junge Leute wie mich ist das viel besser“, sagt Mikkelsen. Besonders die Peißnitz hat es ihr angetan. „Die Saale, das Grüne.“ Allzu oft kann sie dort aber nicht ausspannen. Neben den vielen Trainingsstunden in der Erdgas Sportarena absolviert sie nämlich noch ein Praktikum bei den Stadtwerken. „Gerade bin ich am Empfang“, berichtet sie. So kann sie ihre Deutschfähigkeiten schärfen, aber auch in verschiedene berufliche Bereiche reinschnuppern. Denn: „Ich weiß noch nicht, was ich später machen will“, gibt sie zu.
Im Moment liegt ihr Fokus aber sowieso nicht in der fernen beruflichen Zukunft, sondern im sportlichen Hier und Jetzt. Mit den Wildcats hat sie große Ziele: „Ich möchte sehr gerne in die erste Liga aufsteigen und ich glaube auch, dass wir das schaffen. Die Qualität haben wir“, sagt Mikkelsen. Die Qualität hat vor allem auch Mikkelsen. Die Dänin war die Entdeckung der vergangenen Saison, stand nahezu jede Minute auf dem Parkett, überzeugte in Abwehr und Angriff. Vor allem brachte und bringt Mikkelsen mit ihrer enormen Wurfstärke eine einzigartige Qualität in die Wildcats-Mannschaft ein: Sie kann Tore aus dem Nichts erzielen. Wenn der Schnellangriff mal nicht fruchtet und auch das Positionsspiel der Wildcats keine Wurfchance kreiert, dann kann die 1,77 Meter große Rückraumspielerin als letzte Rettung in die Höhe steigen und den Ball aus über zehn Metern Entfernung aufs Tor zimmern. Mit ihrem linken Arm, der Handbälle trotz aller Narben so enorm schleudern kann.
Quelle: Mitteldeutsche Zeitung von Fabian Wölfling